Musikalischer Blog zur Karwoche

Es mag kaum einen Kom­po­nis­ten geist­li­cher Musik geben, den die Tex­te der Pas­si­on Jesu nicht inspi­riert haben. Über die Jahr­hun­der­te sind nicht nur eini­ge der bedeu­tends­ten musi­ka­li­schen Groß­wer­ke, wie bei­spiels­wei­se die Bach­sche Mat­thä­us­pas­si­on, son­dern auch eine schein­bar gren­zen­lo­se Fül­le höchst unter­schied­li­cher klei­ner musi­ka­li­scher Juwe­len ent­stan­den, die sich mit dem Lei­den, Ster­ben und der Auf­er­ste­hung Jesu beschäf­ti­gen und die wir Jahr für Jahr in lit­ur­gi­schen Fei­ern oder Kon­zer­ten stau­nend bewun­dern dür­fen. Coro­na-bedingt ist das in die­sem Jahr aber anders.

Aus die­ser Not­la­ge her­aus ent­stand die Idee, in einer Art Blog eini­ge geist­li­che Wer­ke vor­zu­stel­len, um die Ent­zugs­er­schei­nun­gen bei Chorsänger*innen, Zuhörer*innen und/oder Musik­in­ter­es­sier­ten zu minimieren.

Auf die­ser Sei­te wird daher im Zeit­raum von Palm­sonn­tag bis Oster­sonn­tag jeden Tag ein musi­ka­li­scher „Impuls“ erschei­nen. Die Bei­trä­ge sind nicht sys­te­ma­tisch auf­ein­an­der auf­ge­baut, haben kein ein­heit­li­ches Sche­ma und sind so bunt und lau­nig wie die Aus­wahl der Stü­cke. Der Schwer­punkt liegt manch­mal auf der Musik, manch­mal auf dem zugrun­de­lie­gen­den Text. Die Bei­trä­ge erhe­ben kei­nen wis­sen­schaft­li­chen Anspruch, es sind ganz per­sön­li­che und lai­en­haf­te Momentaufnahmen.

Man­che mögen in die­sen Tagen eine wohl­ver­dien­te Aus­zeit genie­ßen, Zeit für Sport, unent­deck­te Hob­bys und Lek­tü­re fin­den, ande­re aber wer­den vor unge­ahn­te Her­aus­for­de­run­gen gestellt wer­den, sei es durch Krank­heit, Iso­la­ti­on oder beruf­li­che Her­aus­for­de­run­gen. Für letz­te­re kön­nen die Oster-Gescheh­nis­se viel­leicht auch zu einem Impuls wer­den, um Hoff­nung zu gewin­nen. Am 9. April 1945, also vor fast genau 75 Jah­ren, wur­de der evan­ge­li­sche Theo­lo­ge Diet­rich Bon­hoef­fer im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Flos­sen­bürg hin­ge­rich­tet. Kurz vor sei­nem Tod notier­te er: „Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln“.

Dan­ke für Ihr Inter­es­se und viel Spaß beim Lesen und Hören!

Simon Behr

Oster­sonn­tag 12.04.2020

Zuversicht

Was sol­len wir nun dazu sagen? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat sei­nen eige­nen Sohn nicht ver­schont, son­dern ihn für uns alle hin­ge­ge­ben — wie soll­te er uns mit ihm nicht alles schen­ken? Wer kann die Aus­er­wähl­ten Got­tes ankla­gen? Gott ist es, der gerecht macht. Wer kann sie ver­ur­tei­len? Chris­tus Jesus, der gestor­ben ist, mehr noch: Der auf­er­weckt wor­den ist, er sitzt zur Rech­ten Got­tes und tritt für uns ein. Was kann uns schei­den von der Lie­be Chris­ti? Bedräng­nis oder Not oder Ver­fol­gung, Hun­ger oder Käl­te, Gefahr oder Schwert?  Wie geschrie­ben steht: Um dei­net­wil­len sind wir den gan­zen Tag dem Tod aus­ge­setzt; wir wer­den behan­delt wie Scha­fe, die man zum Schlach­ten bestimmt hat.

Heri­bert A. Hune­ke (1932–2016): „ich wer­de auf­er­ste­hen“. Das Licht über­win­det die Bar­rie­re von Leben und Tod

Doch in all­dem tra­gen wir einen glän­zen­den Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mäch­te, weder Gegen­wär­ti­ges noch Zukünf­ti­ges noch Gewal­ten, weder Höhe oder Tie­fe noch irgend­ei­ne ande­re Krea­tur kön­nen uns schei­den von der Lie­be Got­tes, die in Chris­tus Jesus ist, unse­rem Herrn.“

(Röm 8,31–39)

Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? – If god be for us, who can be against us?

 

Kar­sams­tag 11.04.2020

… und schließt die Hölle zu.“

Tie­fes Schwei­gen herrscht heu­te auf Erden, tie­fes Schwei­gen und Stil­le“, heißt es in einer alten Pre­digt zum Kar­sams­tag. „… hin­ab­ge­stie­gen in das Reich des Todes…“ beten wir im Glau­bens­be­kennt­nis. Was bedeu­tet es, wenn Jesus ins Reich der Toten hinabsteigt?

Ein Theo­lo­ge, der sich mit die­ser Fra­ge lan­ge beschäf­tigt hat, war der Schwei­zer Hans Urs von Bal­tha­sar (1905–1988). Für ihn ist das Gesche­hen am Kar­sams­tag, der des­cen­sus ad infe­ros, der Abstieg Jesu zur Höl­le, von ent­schei­den­der Bedeu­tung. Jesus steigt am Kar­sams­tag hin­ab zu den Men­schen, die sich end­gül­tig von ihm abge­wen­det haben. Bal­tha­sar erkennt die Frei­heit des Men­schen an: Es gibt auf­grund die­ser Frei­heit die Mög­lich­keit, eine ewi­ge Ent­schei­dung gegen Gott zu tref­fen. Gott respek­tiert die­se Wahl, ist aber eben­so frei. In sei­ner unbe­grenz­ba­ren Lie­be steht es ihm frei, die­sen Sün­der, der sich ent­schie­den hat, sich von Gott end­gül­tig abzu­wen­den, bis „in die äußers­te Situa­ti­on sei­ner nega­ti­ven Wahl“ hin­ein zu beglei­ten. [1] Durch den Abstieg am Kar­sams­tag soli­da­ri­siert er sich in der Nicht-Zeit mit den ewig Ver­lo­re­nen, indem er mit ihnen in Gemein­schaft tritt. Die Frei­heit ist von Gott zwar respek­tiert, aber noch­mals ein­ge­holt und unter­grif­fen. [2] Der tote Sohn steigt in sei­ner Schwach­heit her­ab, unfä­hig zu jeder akti­ven Soli­da­ri­sie­rung, erst recht zu jeder beleh­ren­den Pre­digt an die Toten. Er ist in sei­ner Lie­be mit die­sen Toten zusam­men und stört genau dadurch die vom Sün­der erstreb­te Ein­sam­keit. [3] Der Sün­der, der sich gegen Gott ent­schie­den hat, weil er von Gott weg sein woll­te, fin­det in sei­ner Ein­sam­keit Gott wie­der – den Gott, der sich in der Nicht-Zeit mit den Ver­wor­fe­nen soli­da­ri­siert, um den ent­äu­ßer­ten Sün­der aus sei­ner Selbst­ver­schlie­ßung zu befreien.

Chris­tus in der Unter­welt. Dar­stel­lung eines unbe­kann­ten ita­lie­ni­schen Meis­ters des 16. Jahrhunderts

Um Ver­schlie­ßung, Öff­nung und Befrei­ung geht es auch im Schluss­chor der Johan­nes­pas­si­on Johann Sebas­ti­an Bachs:

Ruht wohl, ihr hei­li­gen Gebeine,
die ich nun wei­ter nicht beweine,
Ruht wohl, und bringt auch mich zur Ruh.
Das Grab, so euch bestim­met ist,
und fer­ner kei­ne Not umschließt,
macht mir den Him­mel auf und schließt die Höl­le zu.“

Das Grab ist nicht zu bewei­nen, denn hier ist es gera­de nicht Inbe­griff von Schei­tern und Unfrei­heit, son­dern das Ende aller Not. Das Ver­sie­geln des Gra­bes, das Schlie­ßen, ist kein Ein­schlie­ßen, son­dern das Eröff­nen des Him­mels und letz­ten Endes doch wie­der ein Schlie­ßen, näm­lich das end­gül­ti­ge Zuschlie­ßen der Höl­le. [4]

Das Zur-Ruhe-Kom­men erklingt als viel­fach vari­ier­te und abwärts gerich­te­te Grund­ges­te, die man schon in der Melo­die­füh­rung der ers­ten bei­den Tak­te erken­nen kann. Beson­de­re Erwäh­nung ver­dient aber die musi­ka­li­sche Gestal­tung des Mit­tel­teils (sie­he Noten­bei­spiel; in der Auf­nah­me unten ab Minu­te 4:55).

Es ergän­zen sich der Gene­ral­bass, der in Sprün­gen absteigt (Sinn­bild der Grab­le­gung) und die drei hohen Vokal­stim­men, die bei „macht mir den Him­mel auf“ expres­siv nach oben stei­gen, wie sich auch Ernied­ri­gung und Erhö­hung in der Pas­si­on Jesu ergän­zen. Wie­der – wie in „Aus Lie­be will mein Hei­land ster­ben“, sie­he Ein­trag am Mon­tag – greift Bach auf die Bas­set­to-Tech­nik zurück. Wie­der steht der Bass für die Erden­schwe­re und die Sünd­haf­tig­keit, die hier über­wun­den wird. Auch Flö­ten und Obo­en pau­sie­ren. Durch die­se Klang­re­duk­ti­on wirkt die Pas­sa­ge fast geheim­nis­voll. Die Strei­cher über­neh­men mit getupf­ten Vier­teln die Bass­funk­ti­on, bevor bei der Sil­be „zu“ (schließt die Höl­le zu) alle ver­blie­be­nen Stim­men ein­stim­mig auf einem ein­zi­gen Ton, dem Grund­ton es‘ als Schluss­ton enden – nun ist die Höl­le verschlossen.

 

 

[1] Balthasar, Hans Urs von, Pneuma und Institution, Einsiedeln 1974 (=Skizzen zur Theologie IV), 407.
[2] Dieser Gedanke stammt bereits von Papst Gregor dem Großen, der in seinem Werk Moralia in Iob (10,9) hierzu ausführt: „inferno profundior quia transcendendo subuehit“.
[3] vgl. hierzu Greiner, Michael, Für alle hoffen? Systematische Überlegungen zu H. U. von Balthasars eschatologischem Vorstoß, in: Striet, Magnus / Tück, Jan-Heiner (Hgg.), Die Kunst Gottes verstehen: Hans Urs von Balthasars theologische Provokationen, Freiburg 2005, 232.
[4] Die folgende theologische und musikalische Deutung des Stückes ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung des Abschnitts bei Walter, Meinrad: Johann Sebastian Bach. Johannespassion. Eine musikalisch-theologische Einführung, Stuttgart 2011, S. 197–200.

Kar­frei­tag 10.04.2020

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Jeru­sa­lem. Es ist der 15. Nisan, viel­leicht im Jah­re 30, der Tag vor dem Sab­bat, um die neun­te Stun­de: Jesus stirbt.

Zer­bro­chen sind alle Hoff­nun­gen. Zer­bro­chen ist der Glau­be der Jün­ger, die ihr Leben auf­ge­ge­ben haben, dass alle Welt in Jesus von Naza­reth den Sohn des all­mäch­ti­gen und leben­di­gen Got­tes erken­nen wird und nie­der­fällt, ihn anzu­be­ten. In die­ser Stun­de liegt ihr Glau­be in Scherben.

Und Jesus? Er hängt lei­dend am Kreuz, gede­mü­tigt von den Sol­da­ten, Hohe­pries­tern und Schrift­ge­lehr­ten. Macht­los. Sein letz­ter Ruf: „Mein Gott, mein Gott, war­um hast du mich ver­las­sen?“. Dann haucht er den Geist aus (Mk 15,37).

Der Gekreu­zig­te. Gemäl­de von Jac­ques-Lou­is David (1748–1825), über­malt von Arnulf Rai­ner (geb. 1929)

Die Evan­ge­li­en hal­ten den Ruf Jesu zunächst im ara­mäi­schen Ori­gi­nal­wort­laut fest und über­set­zen ihn dann ins Grie­chi­sche, als woll­ten sie uns die gan­ze Fremd­heit und Uner­hört­heit die­ses Gebets­schreis erhal­ten. Man mut­maßt, wie uner­hört fremd all dies war, sodass die Evan­ge­lis­ten es genau fest­hal­ten muss­ten, um zu sagen: So war es! Alles war vor­stell­bar, alles hät­te pas­sie­ren kön­nen, alles Mög­li­che, aber nicht dies: Jesus ist allein. Gott kam nicht zur Hilfe.

Ein Moment voll­kom­me­ner Gott­ver­las­sen­heit, ohne Trost.

Tat­säch­lich?

Es erscheint loh­nens­wert, die Stel­le näher zu beleuchten.

Mein Gott, mein Gott“

In der Situa­ti­on größ­ten phy­si­schen und psy­chi­schen Schmer­zes ist die­se Aus­sa­ge bemer­kens­wert, denn sie ist immer noch per­so­nal aus­ge­rich­tet; sie sucht Gott, sie schreit nach ihm in vol­ler ankla­gen­der Ver­zweif­lung – aber den­noch ist sie auf ihn aus­ge­rich­tet, wen­det sich nicht ab, bricht den Kon­takt nicht ab, son­dern will ihn ansprechen.

Wenn man im Leid steckt, ist viel­leicht selbst ein Schrei der Ent­täu­schung zu Gott ein Glaubensakt.

In die­sem Sin­ne kann man den Ruf auch chris­to­lo­gisch deu­ten: Erlö­sung ist kein Auto­ma­tis­mus und Jesus nicht jemand, der ein vor­ge­ge­be­nes Schick­sal gleich­mü­tig ver­ar­bei­tet. Er ist auch ganz Mensch und gibt uns durch sein Lei­den und sei­ne Ver­zweif­lung Zuver­sicht: Man darf mit Gott rin­gen, mit ihm reden, ihn fra­gen und ihn ankla­gen, solan­ge man die Bezie­hung nicht abbricht.

War­um hast du mich verlassen?“

sagt auch etwas über den Ver­gan­gen­heits­zu­stand aus: Gott war ein­mal da. Man hört die Sehn­sucht, Gott wie­der zu spü­ren, sich ihm wie­der ver­bun­den zu fühlen.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt ent­springt einer unge­nau­en Über­set­zung die­ses Ver­ses. „Mein Gott, mein Gott, war­um hast du mich ver­las­sen“ (Mk 15,34) zitiert Ps 22,2 wort­ge­nau. Das Hebräi­sche לְמָה (lema) kann sowohl „War­um?“ als auch „Wozu?“ bedeu­ten. Die Über­set­zung mit „Wozu?“ liegt aber in die­sem Kon­text näher, wes­halb in der Sep­tuag­in­ta ein­heit­lich „εἰς τί“ über­setzt wird. Auch Hie­ro­ny­mus über­setzt in der Vul­ga­ta „ut quid“. Selbst die ältes­te Über­set­zung ins Deut­sche lau­te­te: „Mein gott: varz­ou has­tu mich gelas­sen?“ [1] Den­noch hat sich in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten im deut­schen Sprach­raum das „War­um?“ durchgesetzt.

Wo liegt der Unterschied?

Das Wozu fragt nicht nach dem Grund, son­dern nach dem Sinn und Ziel des gött­li­chen Han­delns. Das Wozu nimmt dem Hadern mit dem Ver­gan­ge­nen und Gegen­wär­ti­gen die Schär­fe und wei­tet den Blick für eine Umdeu­tung, gerich­tet auf die Zukunft, die viel­leicht einen tie­fe­ren Sinn in Man­chem offen­bart, das momen­tan sinn­los erscheint. Es ist viel­leicht die­ses gro­ße „Viel­leicht“, das eine Hoff­nung andeu­tet, dass die vie­len Freu­den und die vie­len Brü­che in unse­rem Leben zu einem sinn­stif­ten­den Gan­zen wer­den – wie auch immer und wann auch immer.

Eli, Eli, lema sabachtha­ni“ in einer Ver­to­nung des unga­ri­schen Kom­po­nis­ten Györ­gy Deák-Bárdos:

 

 

[1] siehe Ruegger, Hans-Ulrich / Hämmig, Annelies: „Mein gott: varzou hastu mich gelassen?“. Philologische Annäherung an eine theologische Frage (Mk 15,34), in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 102 [2011], 40–58.

09.04.2020

Opfer?

Die Abend­mahls­mes­se am Grün­don­ners­tag ist von einer son­der­ba­ren lit­ur­gi­schen Stim­mung geprägt. Da ist einer­seits die Freu­de über die Ein­set­zung der Eucha­ris­tie, eben­so ist aber bereits die dunk­le Vor­ah­nung der Pas­si­on spür­bar, ande­rer­seits ste­hen Aspek­te wie Nächs­ten­lie­be und Gemein­schaft, wie bei der Fuß­wa­schung, in einem beson­de­ren Fokus.

In den lit­ur­gi­schen Tex­ten des Grün­don­ners­tags spielt der Begriff des Opfers eine zen­tra­le Rol­le: Im letz­ten Abend­mahl  Jesu wer­de sein Opfer­tod sakra­men­tal vor­aus­ge­nom­men. [1] Anselm von Can­ter­bu­ry, ein Theo­lo­ge des 11. Jahr­hun­derts, ent­wi­ckel­te die sog. Satis­fak­ti­ons­theo­rie: Ange­sichts der mensch­li­chen Schuld muss­te der Gerech­tig­keit genü­ge getan wer­den durch den Süh­ne­tod. Ein Gedan­ke, der heut­zu­ta­ge schwer ver­ständ­lich erschei­nen mag. Wie ist es dann aber zu deu­ten, wenn wir bei Jesu Tod von einem „Opfer“ spre­chen? [3] Eine mög­li­che Deu­tung ergibt sich, wenn wir den Blick­win­kel ändern und nicht nur Jesu Tod, son­dern auch sein Leben in den Blick neh­men, sei­ne auf­rich­ten­de, ver­wan­deln­de und befrei­en­de Lebens­pra­xis. Das Leben Jesu ist nicht blo­ße Vor­be­rei­tung für den Tod als die eigent­li­che Erlö­sungs­tat, son­dern das Leben Jesu selbst hat erlö­sen­de Kraft. Der Tod aber ist den­noch ein wesent­li­ches Moment in die­sem Leben. In die­sem Sin­ne ist der Tod Jesu kein unglück­li­cher Zufall, son­dern eine wesent­li­che (nicht inten­dier­te, aber bewusst akzep­tier­te) Kon­se­quenz sei­ner Lebens­pra­xis. Er hielt Tisch­ge­mein­schaft mit den Sün­dern, sei­ne Sün­den­ver­ge­bung wur­de als Got­tes­läs­te­rung gese­hen, sein Ein­satz für den Men­schen als Miss­ach­tung des Geset­zes. Wie Lk 4,29 zeigt, kam es schon früh zu Ver­su­chen, ihn umzu­brin­gen. Ver­mut­lich war ihm bewusst, dass die Aus­ein­an­der­set­zun­gen in Jeru­sa­lem am hef­tigs­ten wer­den wür­den, doch er mied die Stadt nicht, er woll­te, dass sei­ne Bot­schaft wei­ter an die Öffent­lich­keit dringt. In die­sem Sin­ne ist Jesus auch an sei­ner Lie­be zu uns gestor­ben. Das Ster­ben lag in der Kon­se­quenz der Lie­be, nicht, weil der Tod an sich wert­voll oder gott­ge­wollt wäre, son­dern weil Lie­be als Pro-Exis­tenz wesent­lich Ein­satz der eige­nen Per­son, Hin­ga­be bis zum Äußers­ten besagt; weil Lie­be als Mit-Sein ver­wund­bar macht, weil in die­ser fak­tisch so uner­lös­ten, manch­mal nur wenig zur Lie­be fähi­gen Welt sol­che Hin­ga­be oft nicht ein­fach und har­mo­nisch als beglü­cken­des Sich-Ver­strö­men gelingt, weil viel­mehr Lie­ben­de in die Ver­kramp­fun­gen und Lei­den der von ihnen gelieb­ten Men­schen hin­ein­ge­zo­gen wer­den – mit dem Risi­ko, dar­in auf­ge­rie­ben zu wer­den. So wird ein nicht nur äuße­rer, son­dern auch inne­rer Zusam­men­hang zwi­schen Lie­be und Tod sichtbar.

Die­se Per­spek­ti­ve eröff­net viel­leicht auch einen wei­te­ren Zugang zum Ver­ständ­nis der Eucha­ris­tie, deren Ein­set­zung wir heu­te fei­ern. Zwei Aspek­te prä­gen die Eucha­ris­tie: Rein äußer­lich han­delt es sich um eine Mahl­ge­mein­schaft, in den Hoch­ge­be­ten ist aber immer auch vom „Opfer“ die Rede („Opfer unse­rer Ver­söh­nung“, „hei­li­ge, makel­lo­se Opfer­ga­ben“). Die von Jesus prak­ti­zier­te Mahl­ge­mein­schaft ist Aus­druck der­sel­ben Soli­da­ri­tät und Lie­be wie der um der Pro-Exis­tenz wil­len ange­nom­me­ne Tod: Beim Geben des Bro­tes gibt Jesus letz­ten Endes sich selbst. Und alle, die in der Eucha­ris­tie ihre Ver­bun­den­heit mit Chris­tus in der Gemein­schaft mit­ein­an­der fei­ern, las­sen sich auf eine Bewe­gung ein, in der nicht nur irgend­et­was ver­schenkt wird, son­dern das eige­ne Leben ein­ge­setzt wird. Das heißt: Wenn Mahl wirk­lich Lie­bes­ge­mein­schaft und nicht nur unver­bind­li­ches Bei­ein­an­der bedeu­tet, dann bedeu­tet es unter den Bedin­gun­gen unse­rer Exis­tenz grund­sätz­lich immer auch ein Opfer.

Bei der Eucha­ris­tie bli­cken wir aber nicht nur auf die Gescheh­nis­se des Abend­mahls und der Pas­si­on, son­dern vor allem auch auf den Oster­sonn­tag, denn dass die Eucha­ris­tie nicht als fins­te­rer Kult des Todes, son­dern als Fest und unter Dank­sa­gung began­gen wird, bekun­det den Glau­ben an die grö­ße­re Sinn­haf­tig­keit und den Sieg der Lie­be, kurz: an die Auf­er­ste­hung. In die­sem Ver­ständ­nis wer­den in der Eucha­ris­tie nicht zwei ver­schie­de­ne Din­ge, Mahl­ge­mein­schaft und Opfer, gefei­ert, son­dern nur ein Ein­zi­ges: die Lie­be, die das eige­ne Leben ris­kiert und stär­ker ist als der Tod.

Ubi cari­tas et amor“ ist eine Anti­phon des Grün­don­ners­tags und zählt wohl zu den bekann­tes­ten christ­li­chen Tex­ten. Eine bekann­te Ver­to­nung ist die des nor­we­gi­schen Kom­po­nis­ten Ola Gjei­lo, die heu­te aller­dings in einer beson­de­ren Fas­sung vor­ge­stellt wird: Der Kom­po­nist selbst, Jahr­gang 1978, umspielt die Chor­kom­po­si­ti­on mit einer Impro­vi­sa­ti­on am Klavier.

Der Text in deut­scher Übersetzung:

Wo Lie­be ist und Güte,
da wohnt Gott.

Chris­ti Lie­be hat uns geeint.
Lasst uns froh­lo­cken und jubeln in ihm!
Fürch­ten und lie­ben wol­len wir den leben­di­gen Gott
und ein­an­der lie­ben aus lau­te­rem Herzen.

 

 

[1] So beispielsweise Adam, Adolf / Haunerland, Winfried: Grundriss Liturgie, 10. Aufl., Freiburg 2014, S. 416.
[2] Natürlich eine sehr verkürzte Darstellung von Anselms Theorie. Zur Satisfaktionstheorie insgesamt siehe v.a. Anselm von Canterbury, Cur deus homo, lat.-dt., 3. Aufl., München 1970.
[3] Zur folgenden Deutung siehe v.a. Nocke, Franz-Josef: Liebe, Tod und Auferstehung. Die Mitte des christlichen Glaubens, München 2005.

08.04.2020

Warum?

Das Kla­ge­mo­tiv ist ein wich­ti­ges Motiv der Pas­si­ons­ge­scheh­nis­se. Da ist einer­seits die Kla­ge über das Lei­den und den Tod Jesu, da ist aber auch der Kla­ge­ruf eines von Gott ver­las­se­nen Die­ners in Psalm 22, den sich der ster­ben­de Jesus am Kreuz als Ster­be­ge­bet zu eigen macht: „Mein Gott, mein Gott, war­um hast du mich ver­las­sen“. Vor die­sem Hin­ter­grund haben die Wochen­ta­ge vor dem Oster­sonn­tag ihren Bei­amen erhal­ten, denn „kara“ bedeu­te­te im Alt­hoch­deut­schen „kla­gen“.

Die Matu­tin, das Nacht­ge­bet im Stun­den­ge­bet der Kir­che, wird an die­sen Tagen ent­spre­chend auch Kar­met­te genannt. Die­se lit­ur­gi­schen Fei­ern wur­den frü­her als „Ten­ebrae“, lat. für Dun­kel­heit, bezeich­net. Dies lei­te­te sich vom Inci­pit des Respon­so­ri­ums in der Matu­tin des Kar­frei­tags ab: Ten­ebrae fac­tae sunt, dum cru­ci­fi­xis­sent Jesum Judaei — Fins­ter­nis herrsch­te, als die Juden Jesus kreu­zig­ten. So wur­den auch die Kar­met­ten in dunk­ler Kir­che gebe­tet, ledig­lich im Altar­raum wur­den Ker­zen ent­zün­det. In vie­len Kir­chen dien­te dazu ein sog. Ten­ebrae-Leuch­ter, ein drei­eckig geform­tes Metall­stück mit Vor­rich­tun­gen für 15 anstei­gend ange­ord­ne­te Ker­zen: Vier­zehn Ker­zen als Sym­bo­le für die elf Apos­tel und die drei Mari­en: Maria, Maria, die Frau des Klo­pas und Maria von Mag­da­la (Joh 19,25), die 15. Ker­ze in der Mit­te als Sym­bol für Chris­tus. Nach jedem Ele­ment der Trau­er­met­te wur­de eine Ker­ze aus­ge­löscht, abwech­selnd rechts und links. Am Schluss der Kar­met­te brann­te nur noch die Chris­tus­ker­ze. Die­se wur­de am Kar­sams­tag als Zei­chen für den im Grab lie­gen­den Chris­tus eben­falls gelöscht.

Ten­ebrae-Leuch­ter mit den 15 ent­zün­de­ten Kerzen

Cha­rak­te­ris­tisch sind für die­se Nacht­ge­be­te auch die Kla­ge­lie­der des Pro­phe­ten Jere­mia (lat. Lamen­ta­tio­nes), die als Lesun­gen gesun­gen wer­den. Hin­ter­grund die­ser Kla­ge­lie­der ist die Zer­stö­rung Jeru­sa­lems 587 v.Chr. und das damit ver­bun­de­ne baby­lo­ni­sche Exil, wodurch die Juden ihre Hei­mat ver­lo­ren. Durch die Zer­stö­rung des Tem­pels ver­lo­ren sie zudem die zen­tra­le Kult­stät­te ihrer Reli­gi­ons­aus­übung. So begin­nen auch die Kla­ge­lie­der mit dem Kla­ge­ruf: „Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war“. Die Kla­ge­lie­der sind nicht nur wegen ihrer aus­drucks­star­ken Poe­sie ein lesens­wer­ter Text, son­dern auch wegen der dahin­ter­ste­hen­den Theo­lo­gie. Das Buch bie­tet kei­ne Lösung der Theo­di­zee-Fra­ge (War­um gibt es Leid?) an, unter­streicht aber die Bedeu­tung der Kla­ge, der eine zen­tra­le Rol­le im Umgang mit dem Leid ein­ge­räumt wird. [1] Die Tex­te unter­strei­chen die Not­wen­dig­keit, den voll­stän­di­gen Bruch mit Gott auch in Situa­tio­nen tiefs­ter Ver­zweif­lung nicht zuzu­las­sen. In den Kla­ge­lie­dern wird auch dem Tief­punkt der Got­tes­be­zie­hung ein Wert bei­gemes­sen. Zag­haft wird nach Halt im frei­en Fall der Ver­zweif­lung und Trost­lo­sig­keit gesucht. Mit ihrer Kla­ge über­de­cken sie das Leid nicht, son­dern geben der Ver­zweif­lung den not­wen­di­gen, weil not-wen­den­den Raum.

Die Tex­te der Kla­ge­lie­der inspi­rier­ten auch Rudolf Mau­ers­ber­ger. Die­ser war seit 1930 Kreuz­kan­tor und Lei­ter des Dresd­ner Kreuz­cho­res gewe­sen, als er in der Nacht vom 13. auf den 14. Febru­ar 1945 die Zer­stö­rung Dres­dens und der Kreuz­kir­che mit­er­leb­te. Geflo­hen an sei­nen Hei­mat­ort im Erz­ge­bir­ge las er in der Kar­wo­che 1945 auch die Kla­ge­lie­der, die ihn zur Kom­po­si­ti­on einer Trau­er­mo­tet­te beweg­ten: „Wie liegt die Stadt so wüst“. Die­se Motet­te wur­de am 4. August 1945 in der ers­ten Ves­per des Dresd­ner Kreuz­cho­res nach dem Krieg in den aus­ge­brann­ten und nur not­dürf­tig beräum­ten Rui­nen der Kreuz­kir­che uraufgeführt.

Ves­per in der Kreuz­kir­che am 4. August 1945

Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war.
Alle ihre Tore ste­hen öde.
Wie lie­gen die Stei­ne des Heiligtums
vorn auf allen Gas­sen zerstreut.
Er hat ein Feu­er aus der Höhe
in mei­ne Gebei­ne gesandt und es las­sen walten.

Ist das die Stadt, von der man sagt,
sie sei die Aller­schöns­te, der sich
das gan­ze Land freuet.

Sie hät­te nicht gedacht,
daß es ihr zuletzt so gehen würde;
sie ist ja zu greu­lich heruntergestoßen
und hat dazu nie­mand, der sie tröstet.

Dar­um ist unser Herz betrübt
und unse­re Augen sind fins­ter geworden:
War­um willst du unser so gar vergessen
und uns lebens­lang so gar verlassen!

Brin­ge uns, Herr, wie­der zu dir,
daß wir wie­der heimkommen!
Erneue uns­re Tage wie vor alters.
Ach Herr, sie­he an mein Elend! [2]

 

 

[1] Zu der hier vorgestellten Theologie der Klagelieder siehe Zenger, Erich u.a., Einleitung in das Alte Testament, 9. Aufl., Stuttgart 2016, S. 589 ff.
[2] Mauerberger stellte einige Verse der Klagelieder frei zu diesem Text zusammen. Er verwendete die Luther-Übersetzung.

07.04.2020

Irrungen und Wirrungen eines Musikstücks

Rom, am Kar­frei­tag­abend des Jah­res 1643: Am Ende der Trau­er­met­te wer­den in der nur von Ker­zen­licht erleuch­te­ten Six­ti­ni­schen Kapel­le alle Ker­zen nach­ein­an­der aus­ge­löscht – ein Zei­chen, dass Jesus nun von all sei­nen Jün­gern ver­las­sen ist. Anschlie­ßend steigt Papst Urban VIII. von sei­nem Thron und kniet vor den Altar, hin­ter dem sich das groß­ar­ti­ge „Jüngs­te Gericht“ Michel­an­ge­los aus­brei­tet. In die tie­fe Stil­le hin­ein erklingt nun wie aus einer fer­nen Welt Chor­ge­sang, so rein und har­mo­nisch, das er als „Musik des Him­mels“ wahr­ge­nom­men wer­den könn­te – so oder so ähn­lich doku­men­tie­ren es vie­le Rei­se­be­rich­te berühm­ter Musi­ker und Intel­lek­tu­el­ler, die im 17. oder 18. Jahr­hun­dert die Kar­wo­che in Rom verbrachten.

Das beschrie­be­ne Stück ist eine zwei­ch­ö­ri­ge Ver­to­nung des 51. Psalms des Alten Tes­ta­ments, das „Mise­re­re“ von Gre­go­rio Alle­gri und es gibt wohl kaum ein Stück in der Musik­ge­schich­te, des­sen Wir­kungs- und Rezep­ti­ons­ge­schich­te so von Mythen, Legen­den und Kurio­si­tä­ten geprägt ist. Ver­mut­lich in den spä­ten 1630er Jah­ren schrieb Alle­gri als Sän­ger des Päpst­li­chen Cho­res der Six­ti­ni­schen Kapel­le die­se Ver­to­nung für die Lit­ur­gie der Kar­wo­che. Eigent­lich han­del­te sich ledig­lich um einen schlich­ten Fals­obordo­ne-Satz, der nach jeweils zwei Ver­sen des Psalms mit dem Text der bei­den nächs­ten Ver­se wie­der­holt wurde.

Eines der weni­gen Por­träts von Alle­gri. In den Noten, die er in der Hand hält, ist der Beginn sei­nes „Mise­re­re“ zu erkennen

Eine Legen­de besagt, dass das Werk Papst Urban VIII. und den nach­fol­gen­den Päps­ten so gut gefiel, dass es bei der Stra­fe der Exkom­mu­ni­ka­ti­on ver­bo­ten war, Abschrif­ten der Par­ti­tur zu erstel­len oder das Stück bei ande­rer Gele­gen­heit oder an einem ande­ren Ort auf­zu­füh­ren – so ent­stand bald ein Mythos um das Stück. Johann Quantz bei­spiels­wei­se, der Flö­ten­leh­rer Fried­richs des Gro­ßen, reis­te im März des Jah­res 1725 eigens von Nea­pel nach Rom, um das Mise­re­re in der Six­ti­na zu hören. Georg Sie­vers, ein Musik­schrift­stel­ler, schrieb, die Into­na­ti­on sei so rein, dass „selbst Dis­so­nan­zen zu Har­mo­nie“ wür­den. Im April des Jah­res 1770 besuch­te schließ­lich der 14-jäh­ri­ge Wolf­gang Ama­de­us Mozart mit sei­nem Vater Leo­pold im Rah­men einer Ita­li­en­rei­se die Got­tes­diens­te der Kar­wo­che in der Six­ti­ni­schen Kapel­le und hör­te auch jenes „Mise­re­re“. Zu Hau­se ange­kom­men, schrieb er das Stück aus dem Gedächt­nis nie­der. Leo­pold Mozart schrieb am 14. April 1770 an sei­ne Frau: „Du wirst viel­leicht oft von dem berühm­ten Mise­re­re in Rom gehört haben, wel­ches so hoch geach­tet ist, daß den Musi­cis der Capel­len unter der excom­mu­ni­ca­ti­on ver­bot­ten ist eine stim­me davon ieman­den zu geben. Allein, wir haben es schon. der Wolf­gang hat es schon auf­ge­schrie­ben.“ [1] Spä­ter soll er die Par­ti­tur dem eng­li­schen Musik­his­to­ri­ker Charles Bur­ney gege­ben haben, der das Werk dann schließ­lich 1771 in Lon­don ver­öf­fent­lich­te. [2]

Den ver­schie­de­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen und dem frü­hes­ten heu­te erhal­te­nen Manu­skript aus der Vati­ka­ni­schen Biblio­thek, das aus dem 18. Jahr­hun­dert stammt, liegt aber gar nicht die Urkom­po­si­ti­on Alle­gris zugrun­de, son­dern eine Bear­bei­tung durch einen unbe­kann­ten Meis­ter aus dem Jah­re 1731. Was Alle­gri also wirk­lich genau geschrie­ben hat, lässt sich heu­te gar nicht mehr zuver­läs­sig rekonstruieren.

Das Stück in der heu­te ver­brei­te­ten Fas­sung birgt aber noch eine wei­te­re Kurio­si­tät: Die bekann­tes­te und von vie­len als am berüh­rends­ten emp­fun­de­ne Stel­le, in der der Sopran des klei­nen Cho­res das c3 erreicht, wur­de nicht von Alle­gri so kom­po­niert, son­dern ist rund 200 Jah­re spä­ter durch einen Über­tra­gungs­feh­ler, sozu­sa­gen eine Unacht­sam­keit, ent­stan­den. 1831 tran­skri­bier­te näm­lich auch Felix Men­dels­sohn Bar­thol­dy wäh­rend einer Kon­zert­rei­se nach Rom das Stück, aller­dings eine Quart höher als das Ori­gi­nal (näm­lich in c- statt in g‑Moll). Beim Abfas­sen eines Arti­kels für ein Musik­le­xi­kon in den 1880er Jah­ren brach­te ein Redak­teur die bei­den Fas­sun­gen durch­ein­an­der und füg­te den ent­spre­chen­den Abschnitt aus Men­dels­sohns Fas­sung (untrans­po­niert) in die Ori­gi­nal­fas­sung ein – das „Mise­re­re“, wie wir es heu­te ken­nen, war ent­stan­den und ver­brei­te­te sich in den kom­men­den Jahr­zehn­ten. Auch in der Wir­kung des Stü­ckes sind sich die Zeit­ge­nos­sen uneins – Felix Men­dels­sohn Bar­thol­dy bei­spiels­wei­se sprach 1831 mit­nich­ten von einer „Musik des Him­mels“, wie es Sie­vers getan hat­te, son­dern von einer „ent­setz­li­chen Deto­na­ti­on“ des Cho­res, der wäh­rend der Auf­füh­rung um drei Ganz­tö­ne gefal­len sein soll. [3]

Das „Mise­re­re“ von (oder ange­sichts des oben Beschrie­be­nen bes­ser nach) Gre­go­rio Alle­gri in der heu­te bekann­ten Fas­sung, in einer gekürz­ten Vari­an­te, gesun­gen von dem Ensem­ble Voces8:

 

 

Für beson­ders Inter­es­sier­te: Der bri­ti­sche Chor The Six­teen unter Har­ry Chris­to­pher stellt in fol­gen­der Ver­si­on, sozu­sa­gen als Streif­zug, im Lau­fe der ver­schie­de­nen Wie­der­ho­lun­gen des Modells auch die unter­schied­li­chen Hand­schrif­ten vor, von der ein­fachs­ten und wohl ältes­ten Fas­sung am Beginn bis zur heu­te am häu­figs­ten auf­ge­führ­ten Fas­sung am Ende:

 

 

[1] Die Briefe W.A. Mozarts und seiner Familie, hrsg. von Luedwig Schiedermair, 5. Bde., hier Bd. 3, München/Leipzip 1914, S. 36.
[2] Um etwas von dem legendenhaften Zauber zu nehmen: Später stellte sich heraus, dass der Papst bereits vor 1770 Kopien des Werkes an Personen verschicken hat lassen, wie beispielsweise Kaiser Leopold I. oder den Komponisten Giovanni Battista Martini.  Vor allem von ersterem wurde allerdings bezweifelhaft, dass der Papst wirklich die Originalfassung verschickt hatte.
[3] Die Zitate der Rom-Reisenden sind vor allem entnommen aus: Amann, Julius J., Allegris Miserere und die Aufführungspraxis in der Sixtina. Nach Reiseberichten und Musikhandschriften, Regensburg 1935.

06.04.2020

Aus Liebe will mein Heiland sterben

Am 11. April 1727 wur­de in der Leip­zi­ger Tho­mas­kir­che das Werk urauf­ge­führt, das seit­her zu den größ­ten Wer­ken der pro­tes­tan­ti­schen Kir­chen­mu­sik gezählt wird: Die Mat­thä­us-Pas­si­on Johann Sebas­ti­an Bachs. Selbst Fried­rich Nietz­sche muss­te im April 1870 in einem Brief ein­ge­ste­hen:  „In die­ser Woche habe ich drei Mal die Mat­thä­us­pas­si­on gehört, jedes Mal mit dem­sel­ben Gefühl der uner­mess­li­chen Bewunderung.“

Eini­ge For­scher sehen in der heu­te vor­ge­stell­ten Arie „Aus Lie­be will mein Hei­land ster­ben“ das „Herz­stück“ die­ses über zwei Stun­den dau­ern­den Wer­kes [1] und eine Ver­dich­tung der theo­lo­gi­schen Quint­essenz der Bach­schen Pas­si­on. Wir befin­den uns im letz­ten Drit­tel des Wer­kes, bei dem „Ver­hör durch Pilatus“.

Jesus vor Pila­tus. Dar­stel­lung des vene­zia­ni­schen Malers Andrea Schia­vo­ne aus dem 16. Jahrhundert

Nach­dem das Volk Jesu Kreu­zi­gung gefor­dert hat, unter­bricht die Hand­lung – nicht unty­pisch für die Pas­sio­nen Bachs – für eine reflek­tie­ren­de Betrach­tung, die in der Sopran-Arie ihren Höhe­punkt fin­det: „Aus Lie­be will mein Hei­land ster­ben, von einer Sün­de weiß er nichts“. Jesus wil­ligt in sei­ne Pas­si­on und glei­cher­ma­ßen in die Lie­be Got­tes ein, damit „das ewi­ge Ver­der­ben und die Stra­fe des Gerichts nicht auf mei­ner See­le blie­be“, wie es in der Arie wei­ter heißt. Des­halb schei­nen wir zuver­sicht­lich sein zu dür­fen, dass letz­ten Endes trotz unse­rer Sünd­haf­tig­keit nicht Stra­fe, Buße und der Tod die Ober­hand haben wer­den, son­dern Ver­ge­bung, Erlö­sung und das ewi­ge Leben. Die evan­ge­li­sche Theo­lo­gin Elke Axma­cher bemerkt dazu: „Nur dem in Lie­be sich selbst Opfern­den kann der Mensch in der wei­chen, emp­find­sa­men Hal­tung der Lie­be begeg­nen, wäh­rend die Lie­be zu dem für ihn Gerich­te­ten gewis­ser­ma­ßen gebro­chen und nur auf dem Weg über Selbst­er­kennt­nis und Buße zu errei­chen ist“. [2]

Bach ver­tont den Text als ruhi­ge Medi­ta­ti­on über den unschul­dig Lei­den­den mit einer über­aus zar­ten Klang­wir­kung. Der Opfer­tod des Hei­lands aus Lie­be steht im Zen­trum, aber eben­so der Gedan­ke sei­ner offen­sicht­li­chen Unschuld. Bei­de Aspek­te setzt Bach unmit­tel­bar in der Musik um.

Die Sopran­stim­me erscheint weit ent­rückt, ein „Gefühl inni­ger Zunei­gung mit schmerz­li­cher Weh­mut“ ver­bin­dend, [3] die Ges­ten der Holz­blä­ser, zwei Obo­en da cac­cia mit ihrem dunk­len, war­men Klang, wir­ken sanft.

Auch die Unschuld Jesu bringt Bach musi­ka­lisch zum Aus­druck. Für eine gewis­se Form der Rein­heit steht zunächst die Ton­art a‑Moll, eine Ton­art ganz ohne Vor­zei­chen. Zudem bedient sich Bach eines Mit­tels, auf das er nicht all­zu häu­fig zurück­griff, näm­lich die Bas­set­to-Tech­nik. Von den Wer­ken der Barock­zeit ist der Gene­ral­bass als das har­mo­ni­sche Fun­da­ment nicht weg­zu­den­ken. Neben einem har­mo­nie­fül­len­den Instru­ment (Cem­ba­lo, Orgel o.Ä.) unter­stütz­ten meist noch wei­te­re Bass­instru­men­te die Bass­li­nie.  Bei einem Bas­set­to-Satz wird auf den Bas­so con­ti­nuo voll­kom­men ver­zich­tet. Der Gene­ral­bass steht in die­sem Zusam­men­hang für die Erden­schwe­re und die Sün­de als Eigen­schaft alles Irdischen.

Die­se Arie ver­liert alle Erden­schwe­re put­ty , weil es um den geht, der als Ein­zi­ger von der Sün­de nichts weiß und trotz­dem für unse­re Erlö­sung zu ster­ben bereit ist.

 

 

[1] So beispielsweise Friedrich Smend: Bachs Matthäus-Passion, in: Bach-Jahrbuch 25 [1928], S. 24–83.
[2] Elke Axmacher: “Aus Liebe will mein Heyland sterben”. Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert, Stuttgart 2005.
[3] Vgl. Emil Platen: Johann Sebastian Bach. Die Matthäus Passion, 7. Aufl., Kassel 2012.

05.04.2020

Palmsonntag

Machet die Tore weit!
„Ihr Tore, hebt eure Häup­ter, hebt euch, ihr uralten Pfor­ten, denn es kommt der König der Herr­lich­keit!“ – ein so inspi­rie­ren­der Text, dass er nicht nur Ein­gang in Georg Fried­rich Hän­dels Mes­si­as gefun­den hat (Lift up your heads), son­dern auch text­li­che Grund­la­ge unse­res wohl bekann­tes­ten Advents­lie­des wur­de: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“

Aber wie­so ein Advents­lied zum Palmsonntag?

Psalm 24 ist nicht nur Bestand­teil advent­li­cher Got­tes­diens­te, son­dern auch in der heu­ti­gen Lit­ur­gie des Palm­sonn­tags an zen­tra­ler Stel­le vor­ge­se­hen, näm­lich als Gesang wäh­rend der Pro­zes­si­on, was einer lan­gen Tra­di­ti­on ent­spricht. Bereits im 4. Jahr­hun­dert wur­de in Jeru­sa­lem mit einer Palm­pro­zes­si­on des Ein­zugs Chris­ti in jene Stadt gedacht. [1] Dass wäh­rend die­ser Pro­zes­si­on schon damals Psalm 24 gebe­tet oder gesun­gen wur­de, ist nicht unwahr­schein­lich, denn bereits in der jüdi­schen Lit­ur­gie hat­te der Psalm als Pro­zes­si­ons­lied beim Auf­stieg auf den Tem­pel­berg gedient, weil der hier­in the­ma­ti­sier­te inne­re Auf­stieg („Wer darf hin­auf­zie­hen zum Berg des Herrn?“, V.3), mit dem äußer­li­chen Auf­stei­gen kor­re­spon­dier­te. Psalm und Auf­stieg enden mit einer Tor­lit­ur­gie am Ein­gang des Tem­pels: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“.

Ein­zug Jesu in Jeru­sa­lem. Aus der Maes­tà des Hoch­al­ta­res des Doms zu Sie­na, am Beginn des 14. Jahr­hun­derts von Duc­cio di Buon­in­segna geschaffen]

In die­sem Sin­ne poch­te in der frü­he­ren Lit­ur­gie des Psalm­sonn­tags der Pries­ter beim Ankom­men am Kir­chen­ge­bäu­de mit dem Vor­tra­ge­kreuz an die ver­schlos­se­ne Kir­chen­tür, die sich auf das Pochen des Kreu­zes hin auf­tat. Ein Ritus, der Zwei­er­lei ver­sinn­bild­li­chen könn­te. Zum einen, dass Jesus durch sein Kreuz, also sein Lei­den, Ster­ben und Auf­er­ste­hen, die Tür zwi­schen Gott und Mensch weit auf­ge­sto­ßen hat. Oder aber, dass Chris­tus mit sei­nem Kreuz auch an die ver­schlos­se­nen Türen die­ser Welt klop­fen will, an die Türen unse­rer Her­zen, als ob er gleich­sam sagen wür­de: „Wenn schon die Got­tes­be­wei­se der Schöp­fung dich nicht für Gott auf­tun kön­nen; wenn schon das Wort der Schrift und die Bot­schaft der Kir­che dich unbe­rührt las­sen – sieh doch mich an, den Gott, der für dich zu einem Lei­den­den gewor­den ist, der sel­ber mit­lei­det – sieh, dass ich lei­de um dich, und tu dich auf für mich, dei­nen Herrn und dei­nen Gott.“ [2]

Psalm 24 hat auch den früh­ba­ro­cken Kom­po­nis­ten Andre­as Ham­mer­schmidt (1611/12–1675) zur Kom­po­si­ti­on eines Chor­wer­kes inspi­riert. Er füg­te den Ver­sen 7 bis 10 aber noch ein Wort hin­zu, das kaum bes­ser zum Palm­sonn­tag pas­sen könn­te: Hosianna!

 

 

 

[1] So berichtet es die Pilgerin Egeria, die in der Spätantike (um 380 n. Chr.) eine Reise durchs Heilige Land unternahm und hierüber einen Reisebericht (Itinerarium Egeriae) verfasste, der heute sowohl aus sprachwissenschaftlicher wie liturgiegeschichtlicher Perspektive große Bedeutung hat.
[2] Aus der Predigt von Papst Benedikt XVI. zum Palmsonntag 2007.

 

📅 4. April 2020